Dieser Artikel erschien in der September-Ausgabe (2013) des Elternmagazins
‚Fritz + Fränzi‘
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Als Jan fünf Jahre alt war, wurden seine Verhaltensweisen zunehmend schwieriger. Die Eltern, Steffie und Thomas, fühlten sich überfordert. Jan hörte immer weniger auf sie, ja er ignorierte ihre Anweisungen regelrecht.
Auch verhielt er sich immer öfter aggressiv seiner kleineren Schwester Lea gegenüber. Die Eltern waren frustriert und verzweifelt und meldeten sich bald für einen Eltern-Erziehungskurs an. Dort lernten sie die Methode der Auszeit kennen. Die Kursleiterin empfahl ihnen, Jan bei unerwünschtem Verhalten für ein paar Minuten in ein anderes Zimmer zu schicken.
Bald nach Kursende begannen die Eltern, die Auszeiten bei Jan einzusetzen, und zwar immer dann, wenn er Wutanfälle oder heftige Trotzreaktionen und Verweigerungen zeigte.
Die Strategie zeigte ziemlich schnell Wirkung. Die Anfälle liessen bald nach. Oft reichte schon die Androhung einer Auszeit, um das schwierige Verhalten zu stoppen. Steffie und Thomas waren begeistert.
In letzter Zeit jedoch liess die Wirksamkeit der Auszeit merklich nach, und die Dinge verschlimmerten sich zusehends. Jan verhielt sich ihnen und seiner Schwester gegenüber wieder vermehrt aggressiv, und die Auszeiten schienen ihn nicht mehr sonderlich zu beeindrucken. Er begab sich ohne Widerspruch in das für die Auszeit vorgesehene Zimmer. Nachdem die Zeit vorbei war, blieb er im Zimmer und liess sich lange nicht mehr blicken. Er nahm nur noch widerwillig an gemeinsamen Aktivitäten teil und kapselte sich zunehmend ab. Für seine Eltern wurde die Situation immer unerträglicher – sie fühlten sich machtlos und wussten nicht mehr weiter.
Die Macht der Bindung
Bevor ich näher auf den Ursprung und die möglichen Risiken der Auszeit-Regel zu sprechen komme, möchte ich auf die starke, meist unbewusste Kraft der Bindung und das Bedürfnis nach Nähe eingehen. Mehr als alles andere brauchen Kinder eine sichere und vertrauensvolle Bindung zu einem oder mehreren für sie verantwortlichen Erwachsenen. Diese Bindung bildet das Fundament einer gesunden geistigen und emotionalen Entwicklung. Und dieses Streben nach Nähe und nach Bindung erklärt unter anderem auch, weshalb manche Verhaltensstrategien wie die Auszeit so gut funktionieren.
Denn dieses Verlangen der Menschen nach Bindung, Beziehung und Nähe zu denjenigen, die wir lieben, ist der stärkste menschliche Trieb, stärker noch als der Essenstrieb. Ein inzwischen gut erforschter und etablierter Bereich der Entwicklungspsychologie, die Bindungstheorie, hat sich intensiv mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Fast das ganze menschliche Verhalten wird davon bestimmt, wie gut es uns gelingt, uns an diejenigen zu binden, die wir lieben. Wenn wir tief verwurzelte Bindungen haben, gedeihen wir und blühen auf.
Wenn wir uns alleine und nicht verbunden fühlen, streben wir nach Nähe. Wir sind nicht gerne alleine. Zuallererst versuchen wir, die Aufmerksamkeit von denjenigen zu bekommen, die wir lieben. Wenn sie uns jedoch nicht zuteil wird, werden wir auf jede uns erdenkliche Weise versuchen, diese Aufmerksamkeit zu erhalten – auch wenn dies mittels unerwünschtem Verhalten geschieht. Die Angst vor der Trennung ist so gross, dass jegliche Art der Bindung immer noch besser ist als gar keine.
Weshalb Auszeiten schaden und auf Dauer nicht funktionieren
Kinder bekommen Wutanfälle, weil sie versuchen, uns mitzuteilen, dass etwas nicht stimmt. Sie wissen vermutlich selbst nicht einmal, was für sie nicht stimmt, aber ihr Verhalten weist uns darauf hin. Üblicherweise fühlen sie sich in jenen Momenten von uns getrennt, oder sie werden von ihren heftigen Gefühlen überwältigt. Wenn wir dann eine Disziplinierungsmethode einsetzen, die auf Trennung basiert, missachten wir ihr Verlangen nach Nähe und helfen ihnen nicht in ihrer Not.
STATT DER AUSZEIT….
Verstehen statt verurteilen
Ich möchte Sie dazu ermutigten, einen anderen Blickwickel einzunehmen, weg vom reagierendem Erziehen hin zu einem verständnisvollen und proaktiven Verhalten. Fragen Sie sich in jenen schwierigen Momenten: «Was ist jetzt wohl das Bedürfnis meines Kindes? Was geht jetzt wirklich in ihm vor?» Lernen Sie, den emotionalen Zustand Ihres Kindes zu verstehen.
Bindung vor Weisung
Ich empfehle, dass Sie zuerst mit dem Kind in Beziehung treten, bevor Sie Ihre Anweisung aussprechen. Im Konflikt selber ist dies jedoch oft nicht möglich.
Den Konflikt später klären
Ihr Kind und Sie sind in solchen Konfliktsituationen emotional sehr geladen. Versuchen Sie, gelassen auf das unerwünschte Verhalten zu reagieren. Sorgen Sie dafür, dass niemand und nichts zu Schaden kommt. Lassen Sie den Konflikt ruhen. Kommen Sie erst dann wieder auf den Vorfall zu sprechen, wenn Sie und Ihr Kind in einer guten, entspannten Bindung sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Kind sich kooperativ zeigen wird, steigt um ein Vielfaches.
Trennungserfahrungen sind die Wurzel der häufigsten Probleme von uns Menschen. Verschlimmern Sie diese nicht, indem Sie noch mehr Trennung hinzufügen!
Dass Auszeiten funktionieren, hat damit zu tun, dass ein Kind, welches Nähe sucht, durch die Androhung von grösserer physischer und emotionaler Distanz noch mehr alarmiert wird. Er wird alles tun, um dieses Gefühl zu stoppen.
«Dein Verhalten ändert nichts an meiner Beziehung zu dir»
Genau das ist den Eltern von Jan widerfahren: Zu Beginn wirkt die Drohung. Jan ist durch die angedrohte noch grössere Distanz zu seinen Eltern dermassen alarmiert, dass er sofort mit seinem Verhalten aufhört. Nach einer gewissen Zeit entwickelt er aber eine Unempfindlichkeit gegenüber dieser Form der Trennung, und sie wird ihn nicht mehr beeindrucken. Die Erfahrung ist schlichtweg zu verletzend: das Bedürfnis nach Nähe und Unterstützung nicht befriedigt zu bekommen. Er wird beginnen, eine emotionale Mauer um sich herum aufzubauen, und sich innerlich immer mehr von seinen Eltern abwenden. Sein ungestilltes Bedürfnis nach Bindung wird er nun anderswo suchen: bei Gleichaltrigen, im Internet oder bei Videospielen. Diese Bindungsumkehr wird es den Erwachsenen, die für seine Erziehung verantwortlich sind, um einiges schwerer machen.
Es ist eine wichtige Grundhaltung in der Erziehung, dem Kind immer wieder die Botschaft zu vermitteln, dass sein Verhalten – und mag dieses manchmal noch so problematisch sein – die Beziehung zu seinen Eltern nicht gefährdet und dass es bedingungslos geliebt wird. Wenn wir das Bedürfnis des Kindes nach Nähe dazu verwenden, sein Verhalten zu lenken, wird beim Kind das Gefühl entstehen, dass es so, wie es ist, nicht okay ist.
Erziehen ohne Auszeit
Häufig sind wir, sei es aus Bequemlichkeit oder Überforderung, beim Erziehen unserer Kinder im Reaktionsmodus. Mit der Zeit eignen wir uns ein paar funktionierende Strategien an, die wir bei Bedarf mehr oder weniger erfolgreich einsetzen. Wenn wir uns aber entscheiden, unsere Rolle als verantwortungsvolle Eltern bewusster wahrzunehmen, sollten wir damit beginnen, proaktiv die Führung zu übernehmen. Wir sollten darum bemüht sein, das Grundbedürfnis des Kindes nach Nähe und Verbindung sicherzustellen, auch dann, wenn ein problematisches Verhalten auftritt.
Lieber Michael, Wie geht es Dir?
Schön formuliert und zusammengefasst, der Artikel.
Dir und deiner Familie alles Gute Marianne
Guten Tag
Ich finde den Artikel und den Ansatz der gegen die Auszeit spricht echt interessant. Bei unserem Sohn wirkt nämlich die Auszeit nicht, respektive es geht gar nicht. Er erlaubt weder mir noch sich ein Time-out in einem Konflikt. Gerne möchte ich es schaffen, dass ich die Trennung einer Auszeit nicht brauche. Was mache ich aber, wenn unser Sohn mich haut, beisst und nicht aufhört damit. Alles, was ich dann tun kann, ist, ihn so zu halten, dass er mir nicht mehr weh tun kann und entweder ihn oder mich hinter einer Tür zu verschanzen. Oft werde ich so wütend, weil er einfach nicht aufhört, auch wenn ich ganz normal sage, stopp, es tut mir weh, höre bitte auf damit. Ich finde, dies echt eine Herausforderung. Gewalt an mir ausgeführt, macht mich einfach sehr wütend und darunter traurig. Und ich fühle mich dann echt hilflos! Mich würde interessieren, was Sie da empfehlen?
Herzliche Grüsse Jeannette