Eine Auswahl aus dem Gedichtband von Rabindranath Tagore (1915)
(Texte entnommen aus dem frei verfügbaren Gutenberg-Projekt)
Am Meerufer endloser Welten treffen sich Kinder.
Der grenzenlose Himmel zu Häupten ist ohne Bewegung, und das ruhlose Wasser ist ungestüm.
Am Meerufer endloser Welten treffen sich Kinder mit Jubeln und Tanzen.
Sie bauen ihre Häuser aus Sand, und sie spielen mit leeren Muscheln. Aus welken Blättern flechten sie ihre Boote und lassen sie lächelnd über der ungeheuren Tiefe treiben. Kinder haben ihr Spiel am Meerufer der Welten.Sie können nicht schwimmen, sie können nicht Netze werfen. Perlenfischer tauchen nach Perlen, Kaufleute segeln in ihren Schiffen, während Kinder Kiesel sammeln und sie wieder verstreun. Sie suchen nicht nach verborgenen Schätzen, sie können nicht Netze werfen.
Das Meer schäumt auf in Gelächter, und fahl glänzt das Lächeln des Gestades. Todbringende Wellen singen verständnislose Balladen den Kindern, wie eine Mutter beim Einwiegen. Das Meer spielt mit Kindern, und fahl glänzt das Lächeln des Gestades.
Am Meerufer endloser Welten treffen sich Kinder. Sturm streicht am pfadlosen Himmel, Schiffe kentern in dem spurlosen Wasser, der Tod ist unterwegs, und Kinder spielen. Am Meerufer endloser Welten ist das große Begegnen der Kinder.
DER URSPRUNG
Der Schlaf, der über des Kindleins Augen huscht – weiß jemand, woher der kommt? Ja, es geht ein Gerücht, daß er in dem Märchendorfe wohnt. Unter Waldesschatten, von Glühwürmern trüb erhellt, hängen zwei Zauberknospen. Von dort kommt er, des Kindleins Augen zu küssen.
Das Lächeln, das auf des Kindleins Lippen flackert, wenn es schläft – weiß jemand, wo das geboren ward? Ja, es geht ein Gerücht, daß ein junger, blasser Strahl des zunehmenden Mondes den Saum einer schwindenden Herbstwolke berührte, und da wurde das Lächeln zuerst geboren in dem Traum eines taureinen Morgens – das Lächeln, das auf des Kindleins Lippen spielt, wenn es schläft.
Die süße, sanfte Frische, die auf des Kindleins Gliedern blüht – weiß jemand, wo die so lange verborgen war? Ja, sie lag, als Mutter noch ein junges Mädchen war, ihr Herz durchdringend, im zarten und schweigenden Geheimnis der Liebe – die süße, sanfte Frische, die auf des Kindleins Gliedern aufgeblüht ist.
DES KINDCHENS WESEN
Wenn Kindchen nur wollte, könnte es in diesem Augenblick zum Himmel auffliegen.
Es ist nicht umsonst, daß es uns verläßt.
Es liebt es, seinen Kopf auszuruhn an Mutters Brust und kann es niemals ertragen, wenn seine Augen sie nicht sehn.
Kindchen kennt allerhand weise Worte, wenn auch Wenige auf Erden ihren Sinn verstehen können.
Es ist nicht umsonst, daß es niemals zu sprechen verlangt.
Das einzige, das es verlangt, ist Mutters Worte von Mutters Lippen zu lernen. Darum schaut es so unschuldig drein.
Kindchen hatte einen Haufen Gold und Perlen und doch kam es wie ein Bettler in diese Welt.
Es ist nicht umsonst, daß es in solcher Verkleidung kam.
Dieser liebe, kleine, nackte Bettler gibt vor, ganz hilflos zu sein, damit er um Mutters reiche Liebe betteln kann.
Kindchen war so frei von jeder Fessel im Lande des kleinen, zunehmenden Monds.
Es war nicht umsonst, daß es seine Freiheit aufgab.
Es weiß, daß Raum ist für endlose Freude in dem kleinen Winkel von Mutters Herzen und daß es viel süßer ist als Freiheit, in ihren lieben Armen gefangen und geherzt zu werden.
Kindchen wußte nichts vom Schreien. Es wohnte im Lande der vollkommenen Seligkeit.
Es ist nicht umsonst, daß es das Weinen erwählt hat.
Wenn es auch mit dem Lächeln seines lieben Gesichtes Mutters sehnendes Herz zu sich zieht, so schlingen doch seine kleinen Schreie über winzige Kümmernisse das doppelte Band von Mitleid und Liebe.
DAS UNBEACHTETE SCHAUSPIEL
Ach, wer war’s, der diesen kleinen Kittel bunt färbte, mein Kind, und Deine süßen Glieder mit diesem kleinen, roten Rock bedeckte?
Du bist herausgekommen im Morgen, auf dem Hof zu spielen, torkelnd und taumelnd, wenn Du läufst.
Aber wer war’s, der diesen kleinen Kittel bunt färbte, mein Kind?
Was gibt’s zu lachen, Du kleine Lebensknospe?
Mutter steht auf der Schwelle und lächelt Dich an.
Sie klatscht in ihre Hände, und ihre Spangen klirren, und Du tanzest mit Deinem Bambusstock in der Hand wie ein kleinwinziger Hirte.
Aber was gibt’s zu lachen, Du kleine Lebensknospe?
O Bettler, was bettelst Du, Mutters Nacken mit Deinen beiden Händen umschlingend?
O gieriges Herz, soll ich die Welt pflücken wie eine Frucht vom Himmel, um sie in Deine kleine, rosige Hand zu legen?
O Bettler, um was bettelst Du denn?
Der Wind trägt lustig das Klingen Deiner Fußschellen davon.
Die Sonne lächelt und bewundert Dein Kleid.
Der Himmel wacht über Dir, wenn Du schläfst in Mutters Armen, und der Morgen kommt auf Zehenspitzen an Dein Bett und küßt Deine Augen.
Der Wind trägt lustig das Klingen Deiner Fußschellen davon.
Die Feenkönigin der Träume kommt zu Dir durch den Dämmerhimmel geflogen.
Die Weltenmutter sitzt bei Dir in Deiner Mutter Herzen.
Er, der seine Musik den Sternen spielt, steht an Deinem Fenster mit seiner Flöte.
Und die Feenkönigin der Träume kommt zu Dir durch den Dämmerhimmel geflogen.
SCHLAFDIEBIN
Wer den Schlaf von Kindchens Augen stahl, muß ich wissen.
Den Krug auf der Hüfte, ging Mutter Wasser holen aus dem nahen Dorf.
Es war Mittag. Der Kinder Spielzeit war vorüber. Im Teich die Enten schwiegen.
Der Hirtenknab‘ lag eingeschlafen unter dem Schatten des Feigenbaums.
Der Kranich stand ernst und still in dem Sumpf am Mangohain.
Mittlerweile kam die Schlafdiebin, haschte den Schlaf von Kindchens Augen und flog davon.
Als Mutter heimkehrte, fand sie Kindchen auf allen Vieren durchs Zimmer kriechen.
Wer stahl von Kindchens Augen Schlaf, muß ich wissen. Ich muß sie finden und anketten. Ich muß dort in die schwarze Höhle schaun, wo durch Felsen und düstres Gestein ein kleiner Bach sickert.
Ich muß suchen in dem Schlummerschatten des Bakulahains, wo Tauben in den Verstecken gurren und Elfenringe in der Stille der Sternennächte klirren. Des abends will ich in das flüsternde Schweigen des Bambuswaldes lugen, wo Leuchtkäfer ihr Licht verschwenden, und will jedes Wesen fragen, das ich treffe: »Kann einer mir sagen, wo die Schlafdiebin wohnt?«
Wer stahl von Kindchens Augen Schlaf, muß ich wissen.
Würd‘ ich ihr nicht ordentlich Bescheid sagen, wenn ich sie nur erwischen könnte! Ihr Nest würd‘ ich überfallen und sehn, wo sie all ihren gestohlenen Schlaf hütet. Ich würde es ganz plündern und ihn heimtragen.
Ich würd‘ ihre zwei Flügel fest zusammenbinden, sie an das Ufer des Flusses setzen und sie dann die Fischerin spielen lassen zwischen den Binsen und Wasserlilien.
Wenn abends das Markten vorüber ist, und die Dorfkinder ihren Müttern im Schoß sitzen, werden die Nachtvögel ihr spottend in die Ohren kreischen:
»Wessen Schlaf stiehlst Du Dir jetzt?«
DER ANFANG
»Wo bin ich hergekommen, wo hast Du mich aufgelesen?« fragte das Kind seine Mutter.
Sie antwortete halb weinend, halb lachend und drückte das Kind an ihre Brust:
»Du warst verborgen in meinem Herzen als seine Sehnsucht, Liebling.
Du warst in den Puppen meiner Kinderspiele; und wenn ich aus Lehm das Bildnis meines Gottes formte jeden Morgen, dann formte und vernichtete ich Dich.
Du warst mit eingeschlossen in der Gottheit unsres Hauses; sie verehrend, verehrte ich Dich.
In all meinem Hoffen und Lieben, in meinem Leben, in dem Leben meiner Mutter hast Du gelebt.
Im Schoß des unsterblichen Geistes, der über unserm Hause waltet, bist Du genährt worden durch Menschenalter.
In meiner Mädchenzeit, da mein Herz seine Blumenblätter aufschloß, schwebtest Du als ihr Duft darüber.
Deine zarte Sanftheit blühte in meinen jugendlichen Gliedern wie ein Wolkenglühn vor Sonnenaufgang.
Himmelserwählter Liebling, Zwilling des Morgenlichts, Du bist den Strom des irdischen Lebens heruntergeschwommen und zuletzt bist Du an meinem Herzen gestrandet.
Ich schaue in Dein Gesicht, und Unfaßbares überkommt mich: Du, der allen gehört, bist mein geworden.
Vor Angst, Dich zu verlieren, halt‘ ich Dich eng an meine Brust. Welcher Zauber hat den Schatz der Welt in diese meine schlanken Arme verstrickt!«
KINDCHENS WELT
Ich wünsche, ich könnte eine stille Ecke haben im Herzen von Kindchens ureigenster Welt.
Ich weiß, sie hat Sterne, die zu ihm reden, und einen Himmel, der niedersteigt zu seinem Gesicht, um ihn mit seinen närrischen Wolken und Regenbogen zu vergnügen.
Solche, die tun, als wären sie stumm und dreinschaun, als könnten sie sich niemals bewegen, kommen zu seinem Fenster gekrochen mit ihren Geschichten und mit Kästen voll herrlichem Spielzeug.
Ich wünsche, ich könnte die Straße wandern, die durch Kindchens Gedanken führt, und weiter, hinaus über alle Schranken;
Wo Sendboten unterwegs sind ohne Grund zwischen den Königreichen der Könige, die keine Geschichte kennt;
Wo die Vernunft Drachen macht aus ihren Gesetzen und sie fliegen läßt, und die Wahrheit die Tat befreit von ihren Fesseln.
WANN UND WARUM
Wenn ich Dir buntes Spielzeug bringe, mein Kind, begreife ich, warum ein solches Spiel von Farben in den Wolken und auf dem Wasser ist, und warum die Blumen in Farben gemalt sind – wenn ich Dir buntes Spielzeug schenke, mein Kind.
Wenn ich singe, damit Du tanzest, weiß ich fürwahr, warum Musik in den Blättern ist, und warum Wellen ihrer Stimmen Chor zu dem Herzen der lauschenden Erde senden – wenn ich singe, damit Du tanzest.
Wenn ich Süßigkeiten bringe für Deine gierigen Händchen, weiß ich, warum Honig in dem Kelch der Blume ist, und warum Früchte heimlich mit süßem Saft gefüllt sind – wenn ich Süßigkeiten bringe für Deine gierigen Händchen.
Wenn ich Dein Gesicht küsse, damit Du lächelst, mein Liebling, begreife ich gewiß, welche Wonne vom Himmel träuft im Morgenlicht, und welch Entzücken die Sommerbrise meinem Körper bringt – wenn ich Dich küsse, damit Du lächelst.
VERLEUMDUNG
Warum sind diese Tränen in Deinen Augen, mein Kind?
Wie grausam von ihnen, Dich immer zu schelten, ohne Grund!
Du hast Dir Finger und Wangen mit Tinte beschmiert beim Schreiben – heißen sie Dich darum schmutzig?
O, pfui! Würden sie es wagen, den Vollmond schmutzig zu heißen, weil er sein Gesicht mit Tinte besudelt hat?
Wegen jeder Kleinigkeit tadeln sie Dich, mein Kind. Sie sind bereit, Fehler zu finden, ohne Grund.
Du zerreißest Deine Kleider beim Spielen – heißen sie Dich darum unordentlich?
O, pfui! Was würden sie einen Herbstmorgen heißen, der durch seine zerfetzten Wolken lächelt?
Achte nicht darauf, was sie zu Dir sagen, mein Kind.
Sie machen eine lange Liste Deiner Missetaten.
Jeder weiß, wie Du Süßigkeiten liebst – heißen sie Dich darum naschhaft?
O, pfui! Was würden sie dann uns heißen, die Dich lieben?
DER RICHTER
Sagt von ihm, was ihr wollt, ich kenne doch meines Kindes Fehler.
Ich lieb‘ ihn nicht, weil er gut ist, sondern weil er mein kleines Kind ist.
Woher wollt ihr wissen, wie lieb er sein kann, wenn ihr versucht, seine Tugenden gegen seine Schwächen abzuwägen?
Wenn ich ihn strafen muß, wird er um so mehr ein Teil meines Seins.
Wenn ich Ursache bin, daß ihm die Tränen kommen, weint mein Herz mit ihm.
Ich allein habe ein Recht, zu tadeln und zu strafen, denn der nur darf züchtigen, der liebt.
SPIELZEUG
Kind, wie glücklich sitzest Du im Staub und spielst mit einem zerbrochnen Zweig den ganzen Morgen.
Ich lächle über Dein Spiel mit diesem kleinwinzigen, zerbrochnen Zweiglein.
Ich bin eifrig bei meinen Rechnungen, stundenlang Zahlen zusammenzählend.
Vielleicht schaust Du auf mich und denkst: »Was für ein dummes Spiel, damit Deinen Morgen zu verderben?«
Kind, ich habe die Kunst vergessen, in Stöcke und Sandhügel vertieft zu sein.
Ich suche nach teurem Spielzeug und sammle Klumpen von Gold und Silber.
Was immer Du findest, Du schaffst Dir damit Deine frohen Spiele; ich verschwende meine Zeit und Kraft an Dinge, die ich niemals erreiche.
In meinem schwanken Boot kämpf‘ ich, der Sehnsucht Meer zu durchkreuzen und vergesse, daß auch ich ein Spiel spiele.
PAPIERSCHIFFCHEN
Tag für Tag laß‘ ich meine Papierschiffchen, eins nach dem andern, den eilenden Strom hinunterschwimmen.
In großen, schwarzen Buchstaben schreib‘ ich meinen Namen darauf und den Namen des Dorfes, wo ich lebe.
Ich hoffe, daß irgendwer in einem fremden Land sie finden wird und wissen, wer ich bin.
Ich belade meine kleinen Boote mit Shiuliblumen aus unserm Garten und hoffe, daß diese Blüten der Dämmerung heil ans Land getrieben werden zur Nacht.
Ich lichte meine Papierschiffchen und schaue hinauf in den Himmel und sehe die kleinen Wolken ihre weißen, blähenden Segel setzen.
Ich weiß nicht, wer von meinen Gespielen im Himmel sie hinunterschickt durch die Luft, damit sie wettlaufen mit meinen Booten!
Wenn Nacht kommt, vergrabe ich mein Gesicht in meine Arme und träume, daß meine Papierschiffchen weiter und weiter treiben unter den Mitternachtssternen.
Die Schlafelfen segeln darin, und die Ladung sind ihre Körbe voll Träume.
SCHRIFTSTELLEREI
Du sagst, daß Vater eine Menge Bücher schreibt, aber was er schreibt, versteh‘ ich nicht.
Er hat Dir den ganzen Abend vorgelesen, aber konntest Du wirklich herausbekommen, was er meinte?
Welch schöne Märchen, Mutter, kannst Du uns erzählen! Warum kann Vater nicht solche schreiben?
Hat er niemals von seiner eignen Mutter Märchen gehört von Riesen und Elfen und Prinzessinnen?
Hat er sie alle vergessen?
Oft, wenn er spät kommt zum Baden, mußt Du gehn und ihn hundertmal rufen.
Du wartest und hältst sein Essen warm für ihn, und er schreibt weiter und vergißt.
Vater spielt immer Büchermachen.
Wenn ich je spielen gehe in Vaters Zimmer, kommst Du und rufst mich: »Was für ein schlimmes Kind!«
Wenn ich den leisesten Lärm mache, sagst Du: »Siehst Du nicht, daß Vater arbeitet?«
Was hat das für Sinn, schreiben und immer schreiben?
Wenn ich Vaters Feder oder Bleistift nehme und in sein Buch schreibe, gerade wie er – a, b, c, d, e, f, g, h, i, –, warum wirst Du dann böse mit mir, Mutter?
Du sagst nie ein Wort, wenn Vater schreibt.
Wenn mein Vater solche Haufen Papier verschwendet, Mutter, scheint es Dich gar nicht zu stören.
Wenn ich aber nur einen Bogen nehme, um mir ein Schiff draus zu machen, sagst Du: »Kind, wie Du einen quälst!«
Was hältst Du von Vaters Bogen und Bogenverderben mit schwarzen Zeichen, über und über auf beiden Seiten?