Die Macht der Bindung
Kinder kommen mit dem instinktiven Drang zur Welt, sich an die Menschen zu binden, die sie versorgen, im Normalfall die Eltern, und sich an ihnen zu orientieren. Sie übernehmen zunächst die Werte ihrer Eltern und entwickeln erst auf dem Boden dieser Geborgenheit die Reife zu echter, selbstbewusster Eigenständigkeit.
So funktioniert seit Menschengedenken das Heranreifen von Menschen und die Übermittlung kultureller Errungenschaften von Generation zu Generation.
Kinder organisieren ihr Verhalten und Denken so, dass sie ihre Bindung zu einer Bindungsperson aufrechterhalten und bringen oft grosse Opfer und verzichten auf vieles, um ihre Bindungsbeziehungen zu erhalten. Verzerrungen und Störungen im Verhalten, Fühlen und Denken des Kindes haben ihren Ursprung fast immer in Störungen der Bindungsentwicklung.
„Jegliches Handeln hat nur im Kontext von
Beziehung Sinn,und ohne Verständnis der
Beziehung wird es auf allen Ebenen nur zu
Konflikten führen. Ein Verständnis der
Beziehungen ist viel, viel wichtiger als die
Suche nach einem Handlungsplan.“
(Krishnamurti)
Fehlgeleitete Bindungen: Die Gleichaltrigenorientierung
Seit ein paar Jahrzehnten werden unsere Kinder jedoch von klein auf ständig in Situationen gebracht, wo ihre zentralen Bezugspersonen (Mutter, Vater, Großfamilie) nicht verfügbar sind.
Da die stellvertretenden erwachsenen Betreuungspersonen (Erzieherinnen, Lehrkräfte) erstens um die Dynamik dieses machtvollen Bindungsinstinktes meist nicht wissen und zweitens durch viel zu große Gruppen Gleichaltriger überfordert sind, wenden sich unsere Kinder notgedrungen ihren Altersgenossen als Bezugpersonen zu und orientieren sich an Gleichaltrige, die ebenso unreif und unerfahren sind wie sie, um von nun an von ihnen zu lernen.
Damit ist ihr Bindungsinstinkt befriedigt, und sie wenden sich zunehmend von den für sie verantwortlichen Erwachsenen ab. Die Folgen erleben wir alle: Kinder, die sich an Gleichaltrigen orientieren, interessieren sich für nichts anderes mehr und haben kein Interesse daran, Werte, Kenntnisse und Fertigkeiten ihrer Eltern und/oder Lehrer zu übernehmen. Sie sind ‚Erwachsenen-taub‘, das Zusammenleben und Unterrichten wird zur Qual, die Kulturübermittlung zwischen den Generationen bricht zusammen.
Noch fataler: Diese fehlgeleitete Bindung verhindert die Reifung zu echter Selbständigkeit, weil die Beziehungen zu Gleichaltrigen Kindern nicht die nötige Sicherheit und Geborgenheit geben können. Es entstehen unreife, konformistische Erwachsene, die ihr wahres Potential nicht entfalten können – die ‚ewigen Jugendlichen‘.
Doch wir können unseren Kindern sehr einfach geben, was sie brauchen – wenn wir um die elementare Kraft der Bindung wissen.
Gordon Neufeld
Der kanadische Entwicklungspsychologe Dr. Gordon Neufeld arbeitet seit über dreissig Jahren mit Kindern und den für sie verantwortlichen Erwachsenen. Als führende Autorität auf dem Gebiet kindlicher Entwicklung gibt er seine Erfahrung mittlerweile weltweit in Vorträgen und Seminaren weiter und veröffentlicht Bücher sowie DVDs mit Vorträgen und Schulungen.
Neufeld arbeitete mehrere Jahre im Gefängnis mit jugendlichen Gewaltverbrechern, hat 20 Jahre lang an der University of British Columbia als Professor gelehrt und war viele Jahre in eigener therapeutischer Praxis tätig. Inzwischen konzentriert er sich auf die Weitergabe seines Wissens und die Schulung von Eltern und beruflich mit Kindern Tätigen in der hilfreichen Anwendung der von ihm gewonnenen Erkenntnisse über Bindung.
Sein 2004 veröffentlichtes Buch »Hold on to your Kids« wurde in Nordamerika sofort ein Bestseller und ist inzwischen in 14 Sprachen übersetzt worden. Der deutsche Titel lautet: »Unsere Kinder brauchen uns! Die entscheidende Bedeutung der Kind-Eltern-Bindung« (mehr in diesem PDF, 300 KB).
Dr. Neufeld ist vor allem durch seine bahnbrechenden Einsichten über Bindung und Aggression bekannt geworden, und sein Modell der kindlichen Entwicklung hilft Eltern und professionell mit Kindern Tätigen entscheidend weiter und damit auch den Kindern!
Dr. Neufelds einzigartige Fähigkeit, das Verhalten von Kindern verständlich zu machen, hat dazu geführt, dass er als Vortragsredner und Seminarleiterinternational sehr gesucht ist. Mit seiner lebhaften und warmherzigen Art hilft er seinen Zuhörern, Zugang zu ihrer eigenen Intuition zu finden und Lösungen auch für komplexe Probleme zu erkennen.
Gordon Neufeld ist verheiratet, hat fünf Kinder und drei Enkelkinder.
Für einen Einstieg in die Bindungstheorie eignet sich die auf Deutsch vorliegenden Artikel und Interviews.