Dieser Beitrag erschien am 17. Mai 2013 auf dem Mamablog
Vielen Eltern ist heute gar nicht mehr bewusst, wie unentbehrlich Zuwendung und Geborgenheit für die gesunde Entwicklung ihrer Kinder sind. Die moderne Bindungsforschung zeigt klar, wie wir unseren Kindern helfen können, sie selbst zu werden. Das Geheimnis elterlicher Erziehung besteht dabei nicht in erster Linie in dem, was die Eltern tun, sondern in dem, was sie für ihr Kind sind. Es ist paradox: Noch nie gab es ein dermassen grosses Angebot an Literatur über Kindererziehung, an Erziehungskursen, an Experten. Auch hatten wir noch nie im Schnitt so wenig Kinder zu erziehen. Zudem waren wir noch nie so engagiert mit unseren Kindern wie heute. Dennoch erleben wir eine Zeit, in der die Kindererziehung sehr schwierig geworden ist.
Offensichtlich scheint uns das natürliche Gefühl dafür abhanden gekommen zu sein. Wie konnte es so weit kommen? Kinder kommen mit einem ausgeprägten Bindungsinstinkt zur Welt, einem Drang, sich an jene Menschen zu binden und zu orientieren, von denen sie versorgt werden. Dies sind im Normalfall die Eltern. Die Kinder übernehmen zunächst die Werte ihrer Eltern und entwickeln erst auf dem Boden dieser Geborgenheit die Reife zu echter, selbstbewusster Eigenständigkeit. So funktioniert seit Menschengedenken das Heranreifen von Menschen und die Übermittlung kultureller Errungenschaften von Generation zu Generation. Der Säugling bindet sich an uns, indem er zum Beispiel unseren Finger fest umklammert oder später als Antwort auf unsere ausgebreiteten Arme ebenfalls die Ärmchen ausstreckt, um sich aufheben zu lassen.
Dies sind instinktive Verhaltensweisen, die seit Hunderttausenden von Jahren das Überleben sichern. Seit dem Beginn der Industrialisierung vor etwa 200 Jahren und noch stärker seit dem zweiten Weltkrieg haben sich die Lebensumstände in den Industrieländern so grundlegend verändert, dass die natürlichen Bindungshierarchien arg durcheinander geraten sind. Seit Tausenden von Jahren (und auch heute noch in traditionellen Gesellschaften) verliefen die Bindungen innerhalb einer Gesellschaft vertikal, das heisst: Das kulturelle Wissen wurde von einer zur nächsten Generation weitergegeben.
Wenn aber die verantwortlichen Erwachsenen, was heute immer öfter der Fall ist, die Rolle der primären Bindungsperson nicht mehr wahrnehmen, überträgt das Kind seinen Bindungsinstinkt woandershin – so wie das frisch geschlüpfte Entenküken. Fehlt die Entenmutter, läuft es vertrauensvoll der Bäuerin, dem Hofhund oder einem Spielzeugauto hinterher. Es fühlt sich in Gegenwart seines Bindungsobjektes beruhigt und sicher, auch wenn es auf diese Weise weder schwimmen noch fliegen lernt.
Auch Kinder unterscheiden nicht, ob das Objekt, auf das sie ihren Bindungsinstinkt richten, überhaupt in der Lage und geeignet ist, für ihre gedeihliche Entwicklung zu sorgen. Und so beobachten wir seit geraumer Zeit wie diese Übermittlung von «oben» nach «unten» durch eine horizontale Orientierung und Wertevermittlung ersetzt wird. Die Kinder und Jugendlichen orientieren sich an ihresgleichen (Musik, Kleidung, Sprache) und die Werte der Erwachsenen verlieren zunehmend an Bedeutung.
Der kanadische Entwicklungspsychologe und Bindungsforscher Gordon Neufeld hat aus den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und Verhaltensforschung die Umrisse der grundlegenden Gesetzmässigkeiten von Bindung extrahiert. Wir haben vergessen, wie wichtig es ist, dass wir den Kindern das Gefühl vermitteln, dass wir wissen, wo es lang geht. Dass wir diejenigen sind, die es beschützen und versorgen. Wenn wir diese Rolle nicht wahrnehmen, fällt das Kind in eine Bindungslücke. Panik und Alarm werden ausgelöst: «Ich kann hier nur überleben, wenn ich jemanden oder etwas habe, an dem ich mich orientieren kann.» Leider orientieren sich immer mehr Kinder in ihrer Not an Gleichaltrigen oder an elektronische Bindungstechnologien (Handy, Computerspiele, Facebook). Die Bindungslücke ist vorübergehend überbrückt, der Alarm lässt nach, eine innere Entspannung tritt an deren Stelle.
Doch das ist genau der Moment wo es anfängt schiefzulaufen! Laut Gordon Neufeld haben Verzerrungen und Störungen im Verhalten, Fühlen und Denken des Kindes ihren Ursprung fast immer in Störungen der Bindungsentwicklung. Die Resillienzforschung (die Resillienzforschung untersucht jene Faktoren, welche die Widerstandskraft von Individuen oder Systemen fördern) hat untersucht, welches der signifikanteste Einzelfaktor bei Jugendlichen ist, der sie davon abhält, verhaltensauffällig zu werden, exzessiv Drogen zu konsumieren, kriminell und gewalttätig zu werden. Es ist dies mindestens eine tiefe Bindung zu einem Anteil nehmenden, reifen Erwachsenen, (einem Elternteil, einem Lehrer oder der Grossmutter). Eine reife Person also, die dem Jugendlichen das Gefühl vermittelt: «Ich sorge mich um dich, du kannst dich auf mich verlassen, du darfst dich bei mir weich und verletzlich zeigen.»